Geschichte

Die Geschichte der Vertreibungen aus den „eingeliederten Ostgebieten” des Dritten Reiches

Einführung

Von den Vertreibungen polnischer Bürger aus den durch Nazideutschland annektierten polnischen Gebieten waren insgesamt etwa 700.000 Personen betroffen. 400.000 von ihnen wurden ins Generalgouvernement abgeschoben, weitere 300.000 wurden innerhalb der annektierten Gebiete umgesiedelt. Diese zweite Form der erzwungenen Migration bezeichneten die Täter als „Verdrängung“ der Polen. Sie bedeutete ihre Konzentration unter schlechteren Bedingungen und in kleineren Wohnungen als bisher; nicht selten wurden der polnischen Bevölkerung Wohnorte auf den schlechtesten Böden angewiesen, wo sie in einer Art von Reservaten leben mussten.

Beides zählt zu den größten deutschen Verbrechen im Verlauf des Zweiten Weltkrieges. Die Vertreibungen wurden lange Zeit totgeschwiegen und haben bis heute keinen angemessenen Platz im historischen Gedächtnis der Polen gefunden. Hierfür gibt es mehrere Gründe. Erstens wurde das Thema während der kommunistischen Herrschaft in Polen von der Geschichtswissenschaft lange Zeit allenfalls am Rande behandelt. Denn dieses Verbrechen ist logisch und faktisch nicht vom Hitler-Stalin-Pakt und von dem zeitweiligen Bündnis zwischen Hitlerdeutschland und der Sowjetunion zwischen dem Herbst 1939 und dem Sommer 1941 zu trennen. Es war das geheime Zusatzprotokoll zum Hitler-Stalin-Pakt, das die Voraussetzungen dafür schuf, dass etwa einer halben Million von im sowjetischen Machtbereich lebenden sogenannten „Volksdeutschen” die Übersiedlung ins Reich erlaubt wurde. Die Propaganda Nazideutschlands fasste diesen Prozess unter der Parole „Heim ins Reich“ zusammen. Die deutschen Behörden leiteten den Strom ihrer Landsleute aus dem Osten genau in die soeben annektierten Ostgebiete, vor allem den „Warthegau“. Um für diese Leute Platz zu schaffen, beschlossen die Nazibehörden, hunderttausende polnischer Bürger ins Generalgouvernement umzusiedeln; der  Raub polnischen Vermögens sollte die materiellen Voraussetzungen für die Ansiedlung Deutscher schaffen. Der Ausgangspunkt, das erste Glied in der Kette der  Ereignisse, die tragische Folgen für das Leben hunderttausender vertriebener Polen hatten, war der in der Geschichtsschreibung der Volksrepublik Polen als Tabuthema behandelte Hitler-Stalin-Pakt.

Ein weiterer Grund für die langjährige Vernachlässigung des Themas der Vertreibungen aus Westpolen lag darin, dass sie vorrangig soziale Klassen trafen, die in der Historiographie der Volksrepublik Polen ohnehin keinen hohen Stellenwert besaßen. Die Deutschen vertrieben in erster Linie diejenigen, die sie als potentiell gefährlichste politische Gegner ihrer Besatzungspolitik ansahen: Mitglieder polnischer politischer und patriotischer Organisationen, ehemalige Teilnehmer am großpolnischen Aufstand, polnische Beamte, Lehrer und Polizisten, kurz: die politischen und Funktionseliten der Zweiten Polnischen Republik. Ein zweites Kriterium für die Vertreibung war, dass die Opfer Vermögenswerte besaßen, die für volksdeutsche Ansiedler von Interesse sein konnten. Deshalb wurden in erster Linie Großgrundbesitzer, Fabrikanten, Kaufleute, Freiberufler und wohlhabendere Bauern ausgesiedelt. Hier liegt wahrscheinlich die zweite Voraussetzung dafür, dass die Vertreibungen polnischer Bürger aus den von Deutschland annektierten polnischen Gebieten in der Geschichtserzählung, die während der Volksrepublik Polen entstand, nur am Rande erwähnt wurden, obwohl die deutschen Kriegsverbrechen als solche ja seinerzeit im Rahmen der offiziellen Geschichtspolitik durchaus breit dargestellt wurden. Denn die genannten sozialen Schichten, die die meisten Opfer stellten – Landadel, Bourgeoisie, Kleinbürgertum und „Kulaken“ – genossen zu jener Zeit nur geringes Ansehen.

Es gibt noch eine dritte und nach wie vor aktuelle Dimension der Tatsache, dass die Erinnerung an die Geschichte der Vertreibungen polnischer Bürger, der diese Webseite gewidmet ist, bisher nur schwach ausgeprägt ist. Sie wurde im polnischen wie im europäischen Geschichtsbewusstsein überdeckt von der schrecklichsten Seite der Verbrechen Hitlerdeutschlands: der Vernichtung der europäischen Juden. Diese Vernachlässigung ist jedoch unberechtigt, da die Vertreibung der Polen aus ihren Häusern in Großpolen und der Region Łódź, in Pommern-Westpreußen, dem Norden Masowiens und Oberschlesien in denselben historischen Zusammenhang gehört. Beide, Holocaust und Vertreibungen, waren Elemente der deutschen „Volkstumspolitik“, in deren Interesse die ersten Ghettos errichtet und später die Juden ermordet wurden. Auch die Täter kamen aus dem selben Personenkreis. Der SS-Offizier Adolf Eichmann war in Berlin beim „Reichskommissariat für die Stärkung des deutschen Volkstums” tätig, bevor er als Organisator des Holocaust bekannt wurde. Zuvor organisierte er die Vertreibung polnischer Bürger, die ihm als eine Art Testlauf diente. So betraf auch Punkt 9 der Anklage im Jerusalemer Eichmann-Prozess 1961 die Deportation  einer halben Million polnischer Bürger. In den Unterlagen des Reichskommissariats für die Stärkung des deutschen Volkstums hat sich eine Denkschrift von Anfang Oktober 1939 erhalten, die die „Räumung“ der Städte im Generalgouvernement von Juden forderte, um in deren Wohnungen Polen anzusiedeln, die aus dem Warthegau „herausgenommen“ werden sollten. Es bestehen noch andere Abhängigkeiten zwischen diesen Verbrechen, obwohl das Ausmaß des Judenmordes – dies soll hier ausdrücklich betont werden – ebenso unvergleichlich ist wie die Belastung, die dieser für die europäische Geschichte darstellt. Beide Verbrechenskomplexe sind Stufen einer sich rasch radikalisierenden Nationalitätenpolitik der Nazis, deren letztliches Ziel,  wie es in mehreren Varianten des „Generalplans Ost“ beschrieben wurde, die deutsche Kolonisation Mittel- und Osteuropas durch die Ermordung von Dutzenden von Millionen Angehörigen der slawischen Völker – darunter auch der Polen – war.

Die Erinnerung an ein von Nationalitätenkonflikten zerrissenes Europa, die Erinnerung an die Massenvertreibungen, die die jahrhundertelange Tradition des gemeinsamen Lebens und der Zusammenarbeit verschiedener europäischer Völker unwiederbringlich zerstören sollten, die Ehrerbietung für die Opfer – all dies soll die heutige Versöhnung der Völker unseres Kontinents bestätigen und einen wichtigen Beitrag zu Debatte über die Zukunft unserer Gemeinschaft leisten.